Heute bin ich 30 km weit gewandert, durch teilweise schwer zugängliches Gebiet und doch stehen nur 16km als effektive Wanderdistanz zu Buche. Wie kann das sein? Was ist heute passiert?
Die Nacht war wenig erholsam. Ein Schnarcher war ein paar Zimmer weiter einquartiert und sägt in der Nacht den gesamten Birkenbestand Norwegens. Irgendwann stecke ich mir meine Kopfhörer in meine Ohren, höre Musik und schlafe ein paar Stunden.
Das ist auch ein Grund, warum ich die großen Hütten meide – zu viele Menschen mit ihren Marotten, Hunden, unterschiedlichen Rhythmen, die meine Erholungsphasen stören.
Hektisches Treiben beim Frühstück
Von 8 bis 9 h gibt es hier Frühstück. Der relativ enge Frühstücksraum bei gleichzeitig etwa 25 Gästen sorgt für hektisches Treiben. Es gibt alles, was Wanderer braucht. Interessanterweise gibt es an einer Wand Wasserhähne: links kommt heißes Wasser für Tee heraus, aus dem zweiten Hahn Milch, aus dem dritten Kaffee und rechts kaltes Wasser. Ich esse mich durch das Buffet vorwärts und rückwärts und mache mir 2 Brote für unterwegs – anstelle einer Snackpause.
Ich bin vor 10 Uhr unterwegs, die nächste Hütte – Grimsdalshytta – ist nur 16 km entfernt. Allerdings geht es zu Beginn durch eine Klamm – die Dørålsglupen. Auf Postkarten hatte ich bereits gesehen, dass hier ein sehr steiler Weg durch Blockfelder in einer engen Schlucht hindurchführt. Nach diesem wahrscheinlich sehr anstrengenden Part geht es steil bergab ins Haverdalen. Hier geht es über einen Fluss und anschließend wieder – natürlich – bergauf.
So kann ich noch nicht sagen, ob ich es vielleicht sogar bis zur Gautasætre Hytte schaffe, die bereits im Dovrefjell liegt. Doch es soll alles anders kommen.
Døralsglupen – die Schlucht aus Felsbrocken
Ich beginne also die letzte Tagesetappe im Rondane Nationalpark. Es gab Neuschnee diese Nacht. Der Rondslettet ist bepudert, und jetzt setzt leichter Schneefall bzw. Graupel ein.


Es geht sofort in einem Bogen aufwärts und nach einem Kilometer lässt der starke und kalte Wind nach und ich halte an, um die Hardshelljacke auszuziehen. Ich schnalle den Sack mit Zelt und Joggingschuhen ab, öffne die Reißverschlüsse des Rucksacks, verstaue die Jacke und mache den Sack mit Zelt und Schuhen wieder auf dem Rucksackdeckel mit einem elastischen Band und Karabiner fest. Das geht heute sehr leicht, es ist bereits spürbar weniger Essen im Rucksack
Ich hatte ein Pärchen überholt, das mich jetzt rücküberholt. Ich gehe in einigem Abstand hinterher und mache einige Bilder.

Irgendwann füllt das Pärchen ihre Flaschen an einem Bach. Ich hole sie ein und wir kommen ins Gespräch. Sie kommen aus Jerusalem und wandern für 2 Wochen durch Rondane und Jotunheimen. Ein sehr nettes Paar. Es geht weiter und ich hinterher. Irgendwann überhole ich. Über ein paar Schneefelder geht es dann bergab – und wie. So steil, dass ich auf einem Quadratmeter drei Schlenker mache, um etwas Druck aus dem Gefälle zu nehmen.

Im Tal Haverdalen angekommen treffe ich auf 3 Norwegerinnen mit schwarzem Hund. Sie sind in entgegengesetzter Richtung unterwegs und erkundigen sich bei mir nach dem Zustand des bevorstehenden Abschnitts.
Zelt verloren!
Über eine Brücke geht es auf die andere Flussseite. Ich gehe noch ein Stück weiter und möchte nun Mittagspause machen. An einem herabfließenden Bach setze ich meinen Rucksack ab, und öffne den Deckel. Na nu! Wo ist denn der Sack mit meinem Zelt und den Joggingschuhen hin? Der transparente Müllsack ist sonst auf der Oberseite des Rucksacks festgeschnallt. Jetzt baumelt der Karabiner lose am Gummiband.
Was für ein Desaster! Ich habe mein Zelt verloren. Aber wo? Was soll ich jetzt tun?
Ich beschließe, den Weg zurückzugehen und mein Zelt zu suchen.
Ich lasse meinen Rucksack ein paar Meter neben dem Wanderweg liegen, spanne den Regenschirm darüber. Ich esse meine beiden Sandwiches, packe eine Tafel Schokolade ein und eine Flasche Wasser. Ich ziehe außerdem die Regenjacke an und flitze mit meinen Trekkingstöcken los.
Mir kommen die beiden Israelis entgegen. Roy kann sich erinnern, dass ich anfangs noch den Müllsack mit Schuhen und Zelt obendrauf hatte, bei unserer gemeinsamen Pause ist er sich aber nicht mehr sicher, es gesehen zu haben.
So ganz ohne Gewicht auf dem Rücken fliege ich hinauf zur Schlucht. Ich laufe und springe über die Blockfelder und bleibe immer auf einem großen Stein stehen und schaue nach dem Müllsack. Falls er talwärts hinuntergerollt ist, könnte er zwischen Steinen liegen.

An manchen Stellen geht der Weg weit oberhalb der tiefsten Stelle der Schlucht. Ich schaue etwa 50 Meter nahezu senkrecht hinunter und stelle mir vor, wie groß der Müllsack auf diese Distanz in Relation zu den riesigen Steinblöcken aussieht. Ich kann nichts entdecken.
Nach weniger als 1 Stunde habe ich die Norwegerinnen mit Hund eingeholt. Ich erzähle ihnen von meinem Missgeschick – leider haben sie nichts gefunden.
Dann komme ich zu der Stelle, an der ich etwa 1km nach meinem Start heute morgen die Jacke ausgezogen hatte. Ich schaue hier ganz genau hinunter Richtung Bach – hier ist nichts hinuntergerollt, kein Zelt, nichts.
Wieder in Dørålseter angekommen, gehe ich zur Rezeption. Marius ist erstaunt, mich wiederzusehen. An meinem Gesichtsausdruck merkt er, dass etwas nicht stimmt.
Nein, hier hat niemand etwas abgegeben, und Richtung Grinsdalshytta ist sonst auch niemand gegangen. Ich hinterlasse Telefonnummer, E-Mail etc. Falls etwas gefunden wird, ruft er außerdem in der Grimsdalshytta an.
Leicht deprimiert sitze ich für einige Zeit draußen, trinke meine Flasche leer und fülle sie neu auf. Ich gehe davon aus, dass mein Zelt und meine Joggingschuhe verloren sind. In Gedanken gehe ich nun durch, was zu tun ist. Zunächst muss ich zurück ins Halverdalen zu meinem Rucksack, dann bergauf und später entlang eines Berges zur Grimsdaslyhytta. Von hier kann ich bis Hjerkinn wandern und in der Fjellstue übernachten. In Hjerkinn gibt es einen Bahnhof. Mit dem Zug kann ich entweder ins etwa 250 km entfernte Trondheim fahren oder ins 120 km entfernte Otta. Ich kaufe dann ein neues Zelt, fahre die Strecke zurück und setze meine Tour fort.
Ich gehe wieder los Richtung Haverdalen. Nach 500 Metern kommen mir wieder die Norwegerinnen mit Hund entgegen. Ich hätte mein Zelt nicht gefunden, sage ich. Da schaut Eine verwundert und fragt, ob ich denn die große Tüte am Wegesrand nicht gesehen hätte! Wie bitte? Bitte nochmal!
An einem mit dem roten „T“ markierten Steinen liegt meine Tüte mit Zelt, sagt sie.
Mir ist unerklärlich, wie ich das übersehen konnte. Habe ich genau in dieser Passage das Tal abgesucht und nur hinuntergeschaut?
Extrem erleichtert lache ich, freue mich und bedanke mich für die guten Nachrichten. Zum Schluss bekomme ich noch ihre Sandwiches für den Rückweg geschenkt. Tusen takk!
Nach etwa 1 km, wo ich heute morgen die Jacke auszog, liegt tatsächlich mein Müllsack mit Zelt – direkt neben der Wegmarkierung. Unfassbar!

Ich esse jetzt mit riesiger Motivation die beiden Sandwiches und bemerke erst gar nicht, dass ich die Hälfte des Pausenbrotpapiers mitgegessen habe. Beim 2. Sandwich mit brunost (brauner Ziegenkäse, leicht karamellisiert) passe ich aber auf.
Mit Sack und Stöcken renne ich in waghalsigen Manövern über das Blockfeld. Wie im Rausch und einem Computerspiel gleich hole ich Extrapunkte mit jedem Schritt auf einen großen Stein. Vor einem Schneefeld treffe ich ein norwegisches Wanderpaar. Ich erzähle meine Geschichte und sie wissen nun, wem der Rucksack im Haverdalen gehört, den sie dort haben liegen sehen.

Das Schneefeld rutsche ich wie auf Bigfoot-Ski hinunter – eine spannende Balanceübung. Es läuft wieder! 3 mal hintereinander durch die Schlucht? – aber Bitteschön!
Um kurz nach 17 Uhr bin ich an meinem Rucksack. Jemand hat mir einen Powerbar-Riegel an meinen Rucksack geklemmt. Wie nett!. Das waren bestimmt die beiden Israelis.
Ich fühle mich mental plötzlich sehr leer nach dieser emotionalen Achterbahnfahrt und bin kurz davor, vor Ort mein wiedergefundenes Zelt aufzubauen und keinen Meter mehr zu gehen.
Irgendwie möchte ich mich aber für den Riegel bedanken. Ich weiß, dass ich die Beiden auf der Grimsdalshytta treffen kann.
Also los! Aus dem Haverdalen geht es sofort steil hinauf. Und dann noch weiter. Ich fühle mich schon ziemlich platt, mir fehlt eine ganze Mahlzeit. Da nützen auch Sandwiches und Riegel nichts.
Auf der letzten Rille eiere ich vorwärts. Es geht nun einige Kilometer ohne große Höhendifferenzen entlang der Gravhøe. Der Wind bläst dafür stark und sehr kalt.
Irgendwann kann ich die Grimsdalshytta am Hang auf der gegenüberliegenden Talseite sehen.

Das Tückische daran ist aber, dass das Ziel nicht näher zu kommen scheint. Sie liegt noch 5km entfernt, also noch 1 ½ Stunden zu wandern!
Das Schlussstück ist nochmals übel, ich bin erledigt, alle Energie ist aufgebraucht, die Beine beginnen zu zittern. Bei der Bergabpassage schaffe ich es kaum, die nötige Stützkraft aufzubringen. Noch 2 Kilometer…
Um halb neun stolpere ich schließlich in die Grimsdalshytta.
Genau in diesem Augenblick kommen mir Roy und seine Freundin entgegen ( Name leider vergessen). Sie sind sehr froh, mich zu sehen und vor allem zu hören, dass ich mein Zelt gefunden habe. Sie haben von hier oben die Aussicht bei einem Bier genossen und gegen jetzt hinunter in ihr Zelt. Ich bedanke mich für die tolle Überraschung an meinem Rucksack, verabschiede mich nach einer Weile von Ihnen und checke erst einmal ein. Ich übernachte im Schlafsaal für 14 Personen ganz allein. Ich schleppe mich in das Schlafsaalgebäude, gehe im Haupthaus duschen, esse und trinke ein Bier. Danach weiß ich nur noch, dass es halb acht ist, als ich am nächsten Morgen aufwache.