Ich verlasse die reißende Sjoa und schlage mich einen halben Kilometer durch Dickicht hinauf auf einen Traktorvei. Dieser endet an einer Schotterstraße. Die meisten norwegischen Straßen mit dreistelliger Bezeichnung sind Schotterstraßen und etwa eineinhalb-spurig. Neu aufgebrachter Schotter wird regelmäßig nach dem Winter verteilt und mit einem schweren Schlitten geglättet, sobald der Schotter wieder in den Weg eingefahren ist.

Kein Ende in Sicht
Heute mache ich viele Kilometer und Höhenmeter. Ich laufe einige Hundert Meter oberhalb und einen Kilometer von der Sjoa entfernt auf der 440 um den Storhøi-Berg herum. Ab und zu gibt der Kiefernwald, der mich heute den ganzen Tag über begleitet, den Blick frei auf die Sjoa. Dann sehe ich hinab nach Heidal und am späten Nachmittag nach Faukstad. Hier gehe ich hinunter und bin nun wieder näher an der Sjoa. Doch das Tal verengt sich hier – entsprechend schräg sind die Hänge beiderseits des Flusses.

Als ich bereits relativ müde und hungrig bin und schon weit über mein Tagesziel hinaus gelaufen bin, erreiche ich Sjoa.

Hier gibt es einen Campingplatz, der nur 6 oder 7 km von meinem morgigen Tagesziel entfernt liegt, dem Sæta Camping. Dort wartet dann Morgen mein neues Versorgungspaket auf mich. Das ist dann wiederum sehr schön, denn so brauche ich nur weniger als 2 Stunden bis dorthin und habe fast einen ganzen Ruhetag.
Ich gehe um 21 Uhr zur Rezeption, bezahle für mein Zelt und kaufe eine Cola, die ich sofort austrinke. Dann suche ich nach einem schönen Platz. Ich ahne noch nicht, was mich heute Nacht erwartet…
Ankunft auf dem Sjoa Camping
Ich kann mein Zelt überall aufstellen, sagt mir der Besitzer. Als ich so über die große, kurzgemähte Wiese gehe fällt mein Blick auf drei nebeneinanderstehende Campingwagen. Sie stehen etwas erhöht, mit dem Blick über den halben Platz und der vorbeiströmenden Sjoa. Alle drei haben einen terrassenförmigen Vorbau – die meisten norwegischen Dauercamper/ Dauerstellplätze haben so etwas. Doch nur 1 der 3 ist heute bewohnt. Auf der Terrasse steht ein großes Vorzelt und davor wiederum steht ein großer Grill. Der wird aber als Feuerplatz genutzt. Als ich vorbeikomme grüßen eine Frau und Ihr Mann freundlich herüber. Er hält dabei einen großen Trinkbecher in der Hand, sie ein Glas. Beide sitzen an ihrem Feuerplatz auf zwei Campingstühlen, auf dem Tisch zwischen ihnen liegen Zigaretten und ein paar Snacks.
Er trägt zu Basecap ein ärmelloses Rocker T-Shirt. Es umspannt gekonnt seinen üppigen Kotelettfriedhof und gibt bereitwillig den Blick auf die großflächigen Tattoos seiner beiden Oberarmen frei. Sie trägt durchweg schwarze Rockerkluft, die Hose ist ein Mix aus Leggings und Militärhose in Camouflage-Optik.
Vom Wasser zum Absturz
Ich baue mein Zelt 20 Meter entfernt in der Nähe eines freistehenden Wasserhahns auf. Dann gehe ich wieder an den Beiden vorbei und hinüber zu den Duschen. Als ich zurückkomme, freue ich mich schon auf mein Abendessen – mein Magen knurrt völlig zügellos vor sich hin. Ich grüße die Beiden nochmals und frage, ob denn auch wirklich Trinkwasser aus den freistehenden Hähnen käme, die hier zu finden seien.
Jaja, das sei Trinkwasser, wird mir bestätigt. Ob ich denn nicht lieber ein Bier haben möchte, werde ich gefragt. Ohne meine Antwort zu schnell zu verraten: Mit meinem geplanten und dringend nötigen Abendessen wird es heute nichts…
Ich sage bereitwillig ja und er gibt seiner Frau Connie Zeichen für Stuhl und Bier. Und da sitze ich nun am Lagerfeuer im Schwenkgrill und trinke eiskaltes schwedisches Bier mit zwei supernetten Norwegern. Getränke – und damit sind alle Alkoholika gemeint – kaufen die Beiden ausschließlich im günstigeren Schweden ein. Das Pärchen kommt aus der Nähe von Mjøsa, dem sehr, sehr, sehr langen See zwischen Oslo und Lillehammer. Und tatsächlich gehören die beiden anderen Wagen Connies Eltern und seinen Eltern. Für gewöhnlich verbringen sie zusammen einige Wochen auf diesem Platz – seit über 25 Jahren. Krankheit einerseits und Autodefekt andererseits verhindern dies aktuell.
Wir unterhalten uns auf norwegisch und er ist begeistert, wie gut das schon bei mir klappt. Leider habe ich seinen Namen vergessen. Ich werde aber noch erklären, woran dies möglicherweise gelegen hat…
Das erste Bier ist lecker, das zweite schmeckt noch besser. Connie greift in den riesigen Kühlschrank im Vorzelt, das auf der Terrasse steht. Sie trinkt Weißwein – ihr 5-Litertetrapack ist bereits mit mehr Luft als Wein gefüllt. Er trinkt Wodka Lemon und verdünnt es leicht mit Wasser. Natürlich muss ich beide Getränke gleich probieren. Beides schmeckt wirklich gut – auch die Wirkung auf nüchternen Magen nach 38 schweißtreibenden Wanderkilometern ist ziemlich – intensiv…
Zwischenzeitlich kommt ein junger Norweger und möchte meinen beiden Gastgebern ein paar Zigaretten abkaufen. Das wird natürlich abgelehnt, geschenkt ja, aber doch bitte nicht verkauft.
Nachdem ich Weißwein und Wodka vertilgt habe, ist es nun aber Zeit für… richtig: Wieder ein Bier.
Ich beginne einen kleinen Bierturm zu bauen, als der junge Norweger mit seiner Frau zu uns ans Lagerfeuer kommen. Beide erhalten wie ich zunächst die Grundversorgung – Stuhl und Bier.
Das Ende naht noch lange nicht
Es wird nun merklich kühler, ich könnte zu diesem Zeitpunkt die Uhrzeit allenfalls versuchen zu erraten. Doch bin ich mir nicht sicher, wie gut ich jetzt noch dabei wäre.
Mein fantastischer Gastgeber legt Holz nach. Bereits etwas wackelig- schwankend auf den Beinen kommen Birkenscheite zum Einsatz. Im Gegensatz zum herkömmlichen Ofen in Hütten, wo immer mal wieder ein bis zwei Stücke aus dem Netz des 20 Kg-Sacks nachgelegt werden, wird auch beim Holz nicht gekleckert. Er wirft gleich den kompletten Sack auf den Feuergrill. Wir rücken jetzt alle etwas zurück. Ein feines Feuer!
Nach dem ganzen Kreuz-und-quer-trinken ist es nun aber Zeit, etwas Ordnung in die Sache zu bringen. Das machen wir jetzt mit Johnnie Walker Red Label.
Allerdings ist es nun so warm am Feuer, dass ich parallel dazu wieder Bier trinken muss…
Mittlerweile sind wir an einem Punkt angekommen, wo man sich gegenseitig die Tattoos zeigt, wenn man denn welche hat.
Mein (inzwischen) Kumpel ist Willie Nelson – Fan. Das große Konterfei des berühmten Countrysängers prangt auf seinem linken Oberarm.
Es gibt auch Tattoos, die an weniger offensichtlichen Stellen gestochen sind. Da dies vor allem bei den beiden Norwegerinnen der Fall ist, bin ich von dieser norwegischen Landeskunde sehr angetan.

Wir unterhalten uns nun prächtig auf norwegisch bzw. was noch von dieser Sprache übrig ist. Irgendwie haben sich meine Trinkkumpanen auf das Niveau meiner Norwegischkenntnisse heruntergetrunken. Wir verstehen uns jetzt ausgezeichnet. Am Ende kommen aus meinem hyggeligen Rockerbärchen, der in Wirklichkeit Countrymusikfan ist, nur noch vereinzelte Silben. Das junge Norwegerpaar verabschiedet sich und torkelt zurück in ihre Hytte, Connie in den Wohnwagen und ich auf Umwegen in mein Zelt. Ich erwische meinen Zelteingang gleich beim ersten Versuch. Zum Glück hatte ich mein Zelt bereits aufgebaut, bevor ich Connie und Ihren Mann nach dem Trinkwasser gefragt hatte…
Mein Gastgeber schläft jedoch im Stuhl ein. Am nächsten Morgen sitzt er aber auch nicht mehr da. Er scheint es also auch irgendwann geschafft zu haben – die 6 Meter bis zu seinem Campingwagen.